Heute vor 120 Jahren wurde meine Großmutter geboren, die ich zeitlebens „Omi“ nannte. Als ich ohne Eltern war, sorgte sie seit meinem zweiten Lebensjahr gemeinsam mit ihrem Ehemann für eine Kindheit, in der ich die Verschwundenen – die Mutter im Westen, den Vater in Dessau-Törten – niemals vermisste.Beide Großeltern hatten auf Weisung Nazideutschlands Anfang 1945 ihre schlesische Heimat verlassen. Zurück kehrten sie nicht mehr. 1972 begleitete ich sie auf einer Erinnerungsreise nach Brieg – heute Brzeg in der polnischen Woiwodschaft Opole. Das sei, sagten sie anschließend und ganz ohne Wehmut, der innerliche Abschluss mit ihrer Heimat gewesen.
Als Kindermädchen, noch keine Vierzehn, zog Großmutter sich einen Hüftschaden zu, der sie lebenslang zusehends beeinträchtigte. Vermutlich auch deswegen blieb sie eine kleine Person. Groß war ihr liebevolles Herz, mit dem sie viele ihrer Entscheidungen traf. Wie hätte sie, fremd im Anhaltischen, wo ihre beiden Töchter bis zum Kriegsende im Rüstungskonzern Junkers Flugzeug- und Motorenwerke AG den Beruf einer Technischen Zeichnerin erlernten, in mir Heimatgefühle erwecken können?
Als ich schon studierte, zogen die Großeltern in die Nähe ihrer jüngeren Tochter, meiner Tante, die mit Familie im heutigen Bad Schlema wohnte. Dort hatte mein Onkel nach dem Krieg im Uranbergbau einen Untertagejob angenommen.
Während Großvater erst als Lehrausbilder im VEB Waggonbau Dessau, dann als Schlosser in einer privaten Orthopädiewerkstatt und schließlich, bis zur Rente, als Schlossereichef in einer Bau-PGH arbeitete, blieb Großmutter, vor allem meinetwegen, Hausfrau. So musste ich vor der Schulzeit in keinen Kindergarten gehen und als Schüler nie an der Schulspeisung oder in den Sommerferien an den in der DDR angebotenen ‚Ferienspielen‘ teilnehmen.
Das einfache Essen, das sie Tag für Tag und Jahr für Jahr kochte, war schmackhaft und gesund. Meine Lieblingsspeise waren gekochte Eier mit Senfsoße und Salzkartoffeln. Zu Weihnachten gab es, mir zuliebe in leicht abgewandelter schlesischer Tradition, Kasslerbraten und Sauerkraut, schlesische Weißwürste, Bockwurst und Wiener mit Soße, in die in Scheiben geschnittenes Brot gebrockt wurde. So esse ich bis heute an Heiligabend und zu Silvester.
Nach dem Mittagessen hatte ich Hausaufgaben zu machen. Erst wenn Großmutter mit dem Ergebnis zufrieden war, durfte ich spielen. Meine häuslichen Pflichten waren überschaubar, aber bat sie um etwas, verbat sie sich Widerspruch. Ärger, den sie hatte, ließ sie an mir nie aus und auch nicht ihre Sorgen spüren. Mit ihr streiten war schwer. Rief sie, oft vom Wohnstubenfenster aus, wenn ich draußen spielte, heim, hatte ich zu kommen, und ich ‚hörte‘, weil es sich so gehörte.
Oft sang sie, wenn wir zu zweit waren, mit guter Alt-Stimme bei ihren Tätigkeiten, meist Volks- und Küchenlieder. Oder das Radio lief, in dem sie vormittags gern den ‚Schulfunk‘ hörte. Als ich Zwölf oder Dreizehn war, holte ich ihr Bücher, die sie auf Zettel notierte, aus der Leihbibliothek oder brachte sie zurück.
Während meines Lehrerstudiums in Leipzig fuhr ich fast jedes Wochenende nach Hause, erst nach Dessau und ab 1969 nach Zwickau. 1979, kurz vor Ende eines zweiten Studiums am Leipziger Literaturinstitut, starb Großvater. Ich bekam, inzwischen verheiratet, einen guten Job am Landestheater Eisenach. Die Entfernung und ab 1984 ein eigenes Kind vergrößerten die Abstände, in denen ich Großmutter sah.
Umso mehr kümmerten sich Tante und Onkel in Schlema um sie. Dorthin zog sie, als ihr Alter das Leben beschwerlich machte, zunächst in ein Feierabendheim, dann in ein Pflegeheim, wo sie kurz nach ihrem 85. Geburtstag starb. Nach einem der letzten Besuche bei ihr schrieb ich das Gedicht „frühlingsfest“:
frühlingsfest
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