THE MILK OF DREAMS
100 Tage lang waren in diesem Jahr die beiden bedeutendsten Kunstschauen der Welt gleichzeitig zu sehen. Anfang Oktober 2022 ist die documenta fifteen in Kassel schon vorbei. Sie bot eine für den globalen Norden völlig neue Perspektive der Kunst in einer sich gravierend verändernden Welt. Da sind auf der 59. Biennale di Venezia die KunstWerke von 202 Künstlerinnen und 21 Künstlern unter dem Motto „The Milk of Dreams“ noch zu sehen. Auch solch eine Quote ist noch nie dagewesen. Nun mussten „die alten, weißen Männer, wie sie seit Dekaden die Biennale hegemonisieren […] mit megalomanen One-Man-Shows in diversen Palazzi um Aufmerksamkeit betteln“, wie das KUNSTFORUM-Heft zur Biennale genüsslich schreibt.
Ein so demonstrativer Aufschwung für Frauen und ‚queere‘ Personen – alle Menschen, die anders lieben oder fühlen als Heterosexuelle – war 2017 noch nicht in Sicht. Obwohl die damalige Kuratorin Christine Macel das Motto „Viva Arte Viva“ nicht willkürlich wählte, sondern „angesichts weltweiter Konflikte und Verwerfungen“. Aus dieser Perspektive erklärte sie damals schon „die Rolle, die Mitsprache und die Verantwortlichkeit der Künstlerinnen und Künstler im Zusammenhang zeitgenössischer Debatten“ zu „entscheidenden Faktoren“.
Fünf Jahre später zeigt sich, wie vorausschauend ihre Wahrnehmung war. Offensichtlich lässt sich das globale Geschehen mit dem seit der Romantik in den Mittelpunkt unserer Interessen gerückten ICH – vor allem mit einem männlichen weißen! – nicht länger zufriedenstellend bewältigen. Die nicht neue Einsicht, dass die Menschheit nur in einem auf Respekt und Achtsamkeit beruhenden Zusammenleben eine Zukunft hat, hat aus der vorherrschenden männlichen weißen Perspektive heraus noch nirgends auf der Welt ein entsprechendes Handeln hervorgebracht.
Künstlerische Direktorin und Kuratorin der 59. Biennale di Venezia ist Cecilia Alemani, die 2017 den italienischen Beitrag zur Biennale verantwortete. 1977 in Mailand geboren, studierte sie Philosophie und anschließend am Bard College in New York, dem Zufluchtsort von Hannah Arendt in den 1940er Jahren. Seit 2011 ist Cecilia Alemani auch Chefkuratorin des High Line Art-Projekts. „High Line ist ein öffentlicher Raum, der nach der Stilllegung einer hochliegenden Eisenbahntrasse im Westen Manhattens 1991 in eine inzwischen 2,7 Kilometer lange mit Kunstwerken angereicherte Parkanlage umgestaltet wurde.
Für Italien arrangierte Cecilia Alemani aus Arbeiten von drei italienischen Künstlern „Il mondo magico“. „Die magische Welt“ vertraut der verändernden Kraft unserer Vorstellungen. Darin ist die Kunst ein wichtiges Werkzeug, um die Welt lebenswert zu gestalten. Der Titel ist dem Buch „Il mondo magico“ von Ernesto de Martino (1908 bis 1965) entlehnt, einem neapolitanischen Gelehrten, für den Magie nicht Flucht in die Irrationalität bedeutete, sondern eine Chance, die Welt neu wahrzunehmen.
„The Milk of Dreams“ wiederum ist der Titel eines Kinderbuches der Schriftstellerin, Malerin und Bildhauerin Leonora Carrington (1917 bis 2011). 1938 nahm sie an der legendären Ausstellung „Exposition Internationale du Surréalisme“ in Paris teil, lebte dort mit dem 26 Jahre älteren Max Ernst zusammen, befreundete sich mit Joan Miró und André Breton, flüchtete 1940, nach der Verhaftung ihres Lebensgefährten, erst nach Spanien und 1942 weiter nach Mexiko. In „The Milk of Dreams“ beschreibt sie eine Welt, in der das Leben durch ein Prisma der Vorstellungskraft immer wieder neu erfunden wird.
„Portrait Madame Dupin“ von Leonora Carrington (1947)
„Im Grunde“, sagt die Kuratorin, „nehme ich die Besucher*innen mit auf eine imaginäre Reise durch die schillernde Welt immer neuer Metamorphosen der Körper und stelle dabei die herrschenden Definitionen des Menschlichen und Menschen in Frage. Dieses gegen alles Hierarchische gerichtete Denken hinterfragt die traditionellen Lehren der Aufklärung und Renaissance von einer Welt, in der der Mensch, letztlich der Mann das Zentrum und das Maß aller Dinge ist.“
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