„documenta fifteen“ 4

SCHATTENGÄNGE

Draußen hat sich die Luft inzwischen auf über 30 Grad Celsius erhitzt. Das wirkt sich auf weitere Wege und Aufenthalte aus. Schattengänge sind gesucht und Innenräume, die Hitze abhalten oder regulieren.

An der Karlsaue beschirmt Bambusgeflecht den „Küchengarten“ von Britto Arts Trust aus Bangladesh. ‚Britto‘ heißt auf Bangla (die bengalische Sprache) ‚Kreis‘. In der Heimat erforscht das Kollektiv verlorene Geschichte und Gemeinschaften und beeinflusst von der Neun-Millionen-Metropole Dhaka aus den sozio-politischen Umbruch im Land. Vor Ort untersucht Britto den Verlust von Landrechten, Umwelt und Kultur und arbeitet mit seinen Projekten gegen die massive Kommerzialisierung von Lebensmitteln. Als Teil des Triangle Network, ein Netzwerk von Kunstschaffenden und Organisationen, hat die Gruppe inzwischen internationale Reichweite erlangt. In Kassel hat sie in den „Küchengarten“ eine Hütte gesetzt, in der Menschen mit Migrationshintergrund täglich ein Mittagsmahl zubereiten und beim gemeinsamen Essen ihre Geschichten und Erinnerungen austauschen können.

In die documenta-Halle nebenan gelange ich durch einen Tunnel. Inspiriert ist die architektonische Installation der Künstlergruppe Wajukuu Art Project aus Kenia von der traditionellen Behausung des Massai-Volkes und der informellen Ästhetik in den Slums von Nairobi. Ein gewundener Gang öffnet sich in einen um ein Messerschleifgerät bespielten multimedialen Raum. „Ready-made-Skulptur“, abgeleitet von ‚Ready-made‘ (‚Fertigware‘) nennen es die Künstler:innen. Sie bearbeiten Alltags- und Naturgegenstände, indem sie sie verfremden und kombinieren, zu Kunstwerken. Diese Objekte spiegeln die ständig wechselnden Lebensbedingungen in Lunga Lunga wider, einem der am dichtesten besiedelten Slums der Viereinhalb-Millionen-Stadt, der regelmäßig von Bränden und Bulldozern verwüstet wird. Wirklich ein Kunststück ist es, in diesem Geschehen einen „Katalysator für gesteigerte Vorstellungskraft und Solidarität“, wie es im documenta-Handbuch heißt, zu entdecken.

Einen Raum weiter präsentiert die kubanische Gruppe INSTAR eine Gegenerzählung zur kubanischen Kulturgeschichte. Inspiriert vom utopischen Modell des russischen Dichters und Dramatikers Sergej Tretjakow (1892-1937), vergibt und fördert die Gruppe unabhängig  vom staatlichen Kunst- und Kulturbetrieb Kubas Künstler:innen durch Preise und Stipendien. Tretjakow vertrat die Ansicht, dass Kunstschaffende Realität nicht nur abbilden, sondern sie auch kreieren sollten, indem sie sich auf die Gegebenheiten der Ökonomie und der Arbeitswelt einlassen.

Mit einer Skateboardanlage hat das thailändische Non-Profit-Kollektiv Baan Noorg Collaborative Arts and Culture die ungeteilte Aufmerksamkeit jugendlicher Besucher:innen. ‚Baan Noorg‘ heißt ‚Zuhause draußen‘ und ist der Name eines Dorfes im Verwaltungsdistrikt Nongpho, in dem die Künster:innen des Kollektivs Zuhause sind. Sie beschäftigen sich mit uralten Mythen und urbaner Subkultur. Für die documenta fifteen haben sie außerdem einen Wissensaustausch zwischen Kleinbauern und –bäuerinnen initiiert und zeigen das thailändische Schattenspiel Nang Yai. Beim Austauschprogramm geht es um neue Erkenntnisse und Methoden in der Milchviehhaltung, auf die die Landwirtschaft in Nongpho 1968, als weltweit die Reispreise fielen, umgestellt wurde.

Auch Hamja Ahsan, ein ‚neuer Bekannter‘ aus dem Hübner-Areal, ist in der documenta- Halle mit einem seiner LED-Schilder präsent. Exklusiv für Kassel hat der 1981 als Sohn bengalischer muslimischer Eltern in London geborene Künstler ein eigenes Universum konkurrierender Halal-Frittierhähnchenimbisse in die Stadt gehängt. Die Schilder sind geblieben, obwohl er nach einem Facebook-Post von der Kunstschau ausgeschlossen wurde: „Fick NATO, fick neoimperialistisches Deutschland, fick die EU. Ich bin froh, nicht mit diesem neoliberalen, faschistischen Schwein Olaf verbunden zu sein. Ich will ihn nicht in meiner Documenta-Ausstellung“, hatte ihn die Bild-Zeitung übersetzt. Na geht doch: Ausschließen ohne abzuhängen. Aushängen ohne abzuschließen wäre noch besser!

Hitzefrei sind auch die Räume im Naturkundemuseum Ottoneum. Hier zeigt das spanische Kollektiv INLAND das Potential landwirtschaftlich geprägter Ökonomien. Es hat eine Plattform für die gleichzeitige Beschäftigung mit Kunst, Territorium und sozialem Wandel geschaffen und die südkoreanische Forschungsgruppe ikkibawiKrrrr nach Kassel eingeladen. Deren Videoinstallation „Tropics Story“ widmet sich vergessenen Kriegsschauplätzen aus dem Zweiten Weltkrieg und zeigt, wie die Natur sich Landebahnen und Bunkeranlagen wieder zurückholt. Ich denke an das „Führerhauptquartier Wolfsschanze“ im damaligen Ostpreußen, wo Ähnliches vor sich geht.

Ein geobiologisches Gewölbe fungiert als „Käsehöhle“, in der in urzeitlichem Equipment, umgeben von wiedererweckten Tiergeistern, Schimmelpilzkulturen agieren. In einer Reifekammer kreiert INLAND aus diesen Prozessen die Währung „Cheesecoin“. Er ist keine Kryptowährung, sondern eine Erzählung über Tauschsysteme, die mit Käseerzeugung zu tun haben. Schon allein wegen der damit verbundenen Umweltschäden und ihrer Überflüssigkeit sind Betrügereien wie in kryptobasierten Ökonomien hier nicht zu befürchten. Stattdessen entsteht ein „Internet des Gestanks“. Teilweise ist das Ergebnis Käse, durch dessen Heranreifen Cheesecoin „abgebaut“ wird.

„Echtzeit-Sensoren überwachen die Umweltbedingungen und kontrollieren die Präsentation der mit KI generierten paläolithischen Tierbilder an den Höhlenwänden. Doch auch andere Daten sind für dieses System von Belang: Brände auf Weideflächen wegen des Klimawandels, die Zahl der Wolfsangriffe auf die Herde, wie viele Mäuse die Dorfkatze gefangen hat, die Entscheidungen des zentralen Cheesecoin-Komitees und so weiter. Die Technologie wird so von natürlichen und sozialen Prozessen kontrolliert – und nicht umgekehrt.“

Das zweite Obergeschoss bewahrt seit 2012, seit der dOCUMENTA (13), in einem wabenförmigen Regal, das der US-amerikanische Installationskünstler Mark Dion für die im 18. Jahrhundert von Carl Schildbach geschaffene „Holzbibliothek“ gebaut hat. Das Sechseck spielt auf „7000 Eichen – Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ an, eine ‚Soziale Plastik‘, mit der Josef Beuys (1921 bis 1986) auf der documenta 7 Aufsehen erregte. Damals ließ der deutsche Aktionskünstler vor dem Fridericianum zunächst 7000 Stelen aus Basalt – ein vulkanisches Ergussgestein, das beim verzögerten Erkalten häufig meterlange sechseckige Säulen entstehen lässt – aufschichten und pflanzte neben eine Stele einen ersten kleinen Eichenbaum. Wer von da an bereit war, 500 DM zu spenden, durfte, das war Beuys‘ Idee, an anderer Stelle ein Eichenbäumchen pflanzen und einen Basaltblock aus der Plastik dorthin entfernen lassen.

Als Scharlatan beschimpft, sagte Beuys: „Das hat mich nicht verwundert, denn sogar so eine vernünftige Sache wie das Pflanzen von Bäumen hat ja Proteste ausgelöst hier in Kassel. Also, wenn die Kunst an die Menschen herankommt heutzutage, vor allen Dingen mit ihren erneuernden Vorstellungen, dann haben schon Menschen ihre Schwierigkeiten oftmals damit. Das war mir immer klar.“

Fünf Jahre dauerte es, bis 1987 dreieinhalb Millionen DM zusammen, 7000 junge Eichen gesetzt und alle Basaltstelen vom Friedrichsplatz verschwunden waren. Beuys, der das Ende der Aktion nicht mehr erlebte, betrachtete Bäume als wesenhafte Subjekte, denen eigene Rechte fehlen: „Sie sind entrechtet. Sie wissen das ganz genau, dass sie entrechtet sind. Tiere, Bäume, alles ist entrechtet. Ich möchte diese Bäume und diese Tiere rechtsfähig machen.“ Das Feld mit den Basaltstelen war für ihn ein Indikator, ob wir, denkend und handelnd, tatsächlich fortschrittsfähig sind: „Nicht Aufbau, nicht Abbau, sondern beides gleichzeitig in Abhängigkeit“. Der Physiker nennt das ‚Wechselwirkung‘.

Mit angenehmer Kühle lockt die Elisabethkirche am Friedrichsplatz. Hier nutzt das Bistum Fulda und die Katholische Kirche Kassel zum wiederholten Male die documenta-Zeit, um einen eigenen Raum für Gegenwartskunst zu öffnen. „Poem of Pearls“ nennt Birthe Blauth ihre einladende Installation. Kunstrasen erstreckt sich in den Seitenhöfen und über den gesamten Innenraum, in dessen Mitte eine große Feuerschale steht, gefüllt mit Perlen, Symbole für die Seele. Es ist kein Paradiesgarten, sondern ein Gelegenheitsort, mich meiner zu vergewissern. Kann ich an ihm zu mir kommen? oder mich wiederfinden? oder mit Google Maps nicht Auffindbares? oder besser gehen? hinaus durch die Pforte und hinein  ins verfängliche Netz? Mein eigenes Koordinatensystem ist verunsichert. Verkümmert? Da muss ich mich wohl kümmern.

Draußen vor der Kirche ist alles anders. Da findet sich wieder, was sich gehört. Gott sei Dank?

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