Für eine überfütterte Gesellschaft ist freiwilliges Hungern eine Ungeheuerlichkeit. Für eigene Ziele und Interessen seine Existenz aufs Spiel setzen, ist ihr Credo, doch legt sich jemand für andere oder gar die Zukunft ins Zeug, ist ihr das höchst suspekt und ein maximaler Affront.
Von März bis Juni haben in Berlin Mitglieder der vom Mainstream seit ihrem Auftauchen mit entlarvender Vehemenz angegriffenen und als „Klimakleber“ diffamierten „Letzten Generation“ in einem Camp neben dem Wirtschaftsministerium demonstrativ gehungert, um den Bundeskanzler dem Volk gegenüber zur Klimaehrlichkeit zu bewegen. In einer Regierungserklärung soll er die folgenden Punkte anerkennen:
- Der Fortbestand der menschlichen Zivilisation ist durch die Klimakatastrophe extrem gefährdet.
- Der CO2-Gehalt in der Luft ist viel zu hoch. Der (0,42 ‰). Der Weltklimarat zeigt einen Weg, mit dem die Menschheit die beste Überlebenschance hat.
- Dieser Pfad hat einen Zielwert von 0,35 ‰ (bis zum Jahr 2150). Das bedeutet, es sind bereits jetzt hunderte Gigatonnen zu viel CO2 in der Luft.
- Wir müssen jetzt, wenn auch mit Jahren Verspätung, radikal umsteuern.
Wird Herr Scholz sich dazu bewegen lassen? Hat er diese Möglichkeit, wenn Wissenschaftler:innen ihm sagen, dass wirksame Maßnahmen gegen die weitere globale Erwärmung unbedingt und sofort geschehen müssen, wenn die Menschheit nicht in unabsehbare existenzielle Schwierigkeiten kommen will?
Wolfgang Metzeler-Kick (7. März bis 13. Juni), Sona (11. bis 13. Juni), Adrian Lack (7. Mai bis 30. Juni), Markus Müller (30. Mai bis 13. Juni), Michael Winter (16. April bis 18. Mai), Tin (30. April bis 22. Mai), Richard Cluse (25. März bis 9. Juni) und Titus Feldmann (16. Mai bis 9. Juni) haben hungerstreikend ihre Gesundheit, „Wolli“ Metzeler-Kick während seiner 99 Tage sogar bis ans Sterben heran.
Als ich am 3. Juni das Camp besuchte, ging es Wolfgang Metzeler-Kick besonders schlecht. Mit zwei Begleitern der Aktion kam ich in ein längeres Gespräch. Ich erklärte meine generelle Sympathie für den Mut der „Letzten Generation“, sagte ihnen aber auch, dass „hungern-bis-ihr-ehrlich-seid“ zwar mediale Aufmerksamkeit schaffe, was gut sei, das ernsthafte Ziel der Hungernden aber hoffentlich nicht, denn für Ehrlichkeit gegen Politiker hungern, würde unvermeidliches Verhungern bedeuten. Die beiden sagten, leicht verunsichert, dass „Wolli“ seine Entscheidung, für diese Parole sein Leben einzusetzen, in ruhiger Klarheit getroffen habe, ganz bei sich und mit sich im Reinen sei. Aber ist klug – ich wieder, mit Hinweis auf meinen Blog – bis zum Äußersten zu gehen? Wäre es nicht besser, gescheit zu scheitern, in einem geeigneten Moment die Aktion abzubrechen und am Leben zu bleiben, um noch viele andere kreieren zu können? Mit diesem Gedanken im (öffentlichen) Raum verabschiedeten wir uns.
„Trotzdem war dieser Hungerstreik nicht vergebens, denn wir haben damit Wichtiges aufgezeigt“, sagte dann Adrian Lack in einer Pressekonferenz nach Ende des Hungerstreiks. „Nämlich dass wir begreifen müssen, dass uns die Politik nicht retten wird und dass uns die Medien nicht aufklären werden.“
Das sind die Fakten in diesem Land. Viel zu lange schon treiben wir mit ihnen Keile schmerzhaft in Lebens- und Arbeitsgemeinschaften, in Ethnien und Nationen, obwohl wir ausreichend kreatives Potential haben, so mit ihnen umzugehen, dass uns die Zukunft offen bleibt. Stattdessen bleiben die zwei ‚Seelen in unserer Brust‘, die nicht erst Goethe bei sich selbst bemerkt und in seinem Hauptwerk in den Mittelpunkt gerückt hat, Fluch und Segen.
Wir wissen nicht, was daraus folgt. Ist das die ‚Klugheit‘ der Natur? Die, davon ist auszugehen, etwas mehr Lebenserfahrung hat als die Menschheit hienieden. Davor nicht einzuknicken, doch auf die Knie zu sinken (Demut genannt), halte ich für keine schlechte Idee.
Selbstverständlich unterschrieb ich den von den Hungerstreikenden vorbereiteten Brief an den Bundeskanzler.
Es gibt Dinge, da ist ein scheitern akzeptabel, weil es einen neuen Versuch geben wird. Dann gibt es Dinge, die unwiderruflich einen Fakt schaffen, der nicht mehr korrigiert werden kann.
Noam Chomsky schrieb ein Büchlein: „Rebellion or extinction“. Das ist die Konseqenz auf den Punkt gebracht. Insofern macht „Letzte Generation“ alles richtig. Nur gewinnen kann man den Kampf im Kapitalismus nicht – dazu müßten Millionen Menschen weltweit aufstehn und die „Eliten“ verjagen. Vielleicht will die Menschheit aber auch gar nicht gerettet werden.
Versuchen wir es bis zur letzten Minute auf allen Ebenen der Vernunft zum Durchbruch zu verhelfen. Die Hoffnung stirbt zuletzt.