EINHEIT & VIELHEIT
Allmählich entdecke ich, dass sich in dem Begriff lumbung das existenzielle Bemühen von Menschen mit ihrer Wahrnehmung von Ursachen mischt, aus denen sie die Natur hervorgebracht hat. So benennt das Wort nicht nur eine mir sympathische Lebensweise, sondern auch eine außerordentlich gescheite. Warum? Weil sie mit der Einsicht verbunden ist, dass ich (über mich hinaus) nur am Leben bleibe, wenn wir (ohne wenn und aber) miteinander leben. Das von vornherein mit dem Wort Menschsein zu verbinden, ist allerdings eine fatale Illusion.
Dass Neigungen zu Konkurrenz, Gier und Machtausübung, die gleichzeitig zu unserer genetischen Grundausstattung gehören nichts entstehen lassen, was Homo sapiens weiterbringt, wird mir an meinem letzten Kassel-Tag besonders im Museum für Sepulkralkultur bewusst, wo „auf nahbare wie innovative Weise mit den Thematiken von Tod und Sterben und ihren gesellschaftlichen Diskursen, kulturellen und historischen Dimensionen und persönlichen Fragestellungen“ umgegangen wird. Seit 1992 geschieht das dort.
Für die documenta fifteen konfrontiert der in Barcelona lebende mexikanische Künstler Erick Beltrán (1974) an diesem Ort „das westliche, auf die Einheit gerichtete Denken mit der Idee der Vielheit“ und widmet sich gemeinsam mit einer lokalen Forschungsgruppe der Frage: „Was ist Macht?“ Warum hier? Weil nirgendwo anders die krasse Diskrepanz zwischen individueller Kurzlebigkeit und dem ungeheuren Aufwand an Raum, Zeit und Materie, der notwendig ist, um Leben entstehen zu lassen, so rasch so klar zutage käme.
„Die Idee des Individuums ist bekanntlich erst vor 300 Jahren entstanden. Meine Arbeit thematisiert den Clash dieser westlichen Denkstrukturen mit anderen Weisen, die Welt zu sehen“, sagt der Künstler.
„Wir neigen dazu, Dinge als Einheit wahrzunehmen: ich, du, eine andere Person“, steht im documenta-Handbuch. „Die Vielheit wäre dagegen die Gesamtheit der Dinge, die mit einander verbunden sind“. Sind wir mit der schon erwähnten Grundausstattung in der Lage, uns der Wirklichkeit von der Vielheit her zu nähern? „Die Suche nach einer Form oder einem Körper ist ein Versuch, eine Grenze zwischen dem Ganzen und seinen Teilen zu definieren, zwischen dem Willen des Einzelnen und der unsichtbaren und allwissenden Ordnung des Ganzen“, sagt Beltrán und fragt: „Wie entscheiden wir über das, was wir sehen? Wer erzählt die Geschichte? Wer hat die Macht?“
In seinem Projekt „Manifold“ („Mannigfaltigkeit“) wurden Kasseler Bürger:innen nach Bildern befragt, die sie vor Augen haben, wenn sie an Macht denken. Gezeigt werden die Resultate dieser Befragung, um in einem nächsten Schritt in der Vielheit Beziehungen zu entdecken und zu erklären.
Auf diese Weise „erscheint ein schwer zu beschreibender Körper: zugleich einzeln und multipel und in seiner Bewegung Raum und Zeit teilend“. Da ist es wieder, das Zauberwort: ‚teilend‘! Nicht nur als Konflikt, sondern auch als dessen Lösung. Losgelöst aus kosmischen Weiten und aus irdischen und nach Kassel gebracht und hier verortet, hier neu ins irdische und kosmische Geschehen eingefügt und lumbung genannt. Eine schöne Bescherung ist das. lumbung als eine Entität: als Ding, Eigenschaft, Relation, Sachverhalt und Ereignis Seiendes und in diesen Formen des Vorhandenseins für unser Sein Notwendiges.