In einem abgeschiedenen Bergdorf an der polnisch-tschechischen Grenze geschehen mehrere grausame Morde an passionierten Jägern: dem Bürgermeister, dem Pfarrer, einem Tierzüchter, einem Bordellbetreiber. Offenbar hängen sie mit einer Lehrerin und ihren beiden Hunden, die eines Tages verschwinden, zusammen.
Davon handelt der Film „Die Spur“ („Pokot“) der Polin Agnieszka Holland nach einem Roman der polnischen Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk. Auf der Berlinale 2017 erhielt er einen „Silbernen Bären“ für die „Eröffnung einer neuen Perspektive der Filmkunst“.*
„Ist das nun ein Psychodrama, eine Komödie, vielleicht eine schwarze Komödie, ein Thriller, ein Märchen“, fragte die Regisseuse sich selbst. „All diese Genres sind hier vermischt. Ich war mir nicht sicher, ob ich das hinkriege, ob mein Talent, mein Handwerk ausreichen würde. Ich habe also versucht etwas für mich Neues zu machen.“ Für die lobende Kritik war der Film ein „spannender Öko-Thriller, berührendes feministisches Drama und eine schräge Gesellschaftssatire mit pechschwarzem Humor“. Den katholischen deutschen Filmdienst „irritierte“ die „unentschlossene Mischung aus Heimatfilm, Dorfkrimi, Öko-Thriller und zeitdiagnostischem Gesellschaftsporträt“.
Das ist mal wieder so ein Werk, das in keine schon vorhandene Schublade passt. Und ein Tabu bricht – und wie! Bis 20 Minuten vor dem Ende geschieht manch Gruseliges, dann aber traue ich meinen Augen nicht. Die überlebenden Protagonisten, die ‚armen Sünder‘, sind nach den Taten nicht nur besser in der Lage, mit der Natur in Einklang zu leben, sondern bekommen auch die Gelegenheit dazu. Kein Wolf ist am Ende mehr tot, aber ein perfides, der Gemeinschaft entfremdetes Netzwerk aus Obrigkeit, staatlichen Institutionen und privaten Unternehmungen zerstört. Das verunsichert den überraschten Betrachter mehr, als dass es ihn erfreut. Vor allem, weil zuguterletzt so gar keine Spur mehr von schlechtem Gewissen da ist, das ihn, das uns so oft von notwendigem Handeln abhält. Die Filmfiguren nicht. Da sind am Ende die Täter tot und ihre Opfer leben.
Was für ein Angebot! Ermutigung? Befreiungsschlag? Gar eine Lösung des Übels? Was ist mit den Regeln, die gelten? Die hat die Obrigkeit doch stets nach Belieben zu ihren Gunsten ausgelegt, Gehorsam und Gesetzestreue doch immer nur den Untertanen abverlangt und mit Apokalypsen vor Anarchie und Terrorismus gewarnt. Am Ende der Demokratie – wo wir soeben angekommen sind – zieht sie noch einmal alle Register, umschmeichelt Unmündige und Abhängige bis hin zum Wutbürger als willkommene ‚Leistungsempfänger‘ und ‚Follower‘ und proklamiert schamlos eine Freiheit ohne Verantwortung. Parallel maximiert sie Gewinne und opfert Demut und Achtsamkeit auf dem Altar des Wachstums.
In „Die Spur“ wird dieses Gewordensein nicht mehr hingenommen, nicht mehr ausgehalten, sondern in ein Geschehen aufgelöst, das ich kaum gutheißen kann – und gutheißen muss. Was daraus folgt, ist unabsehbar. Die Alternative wäre, bleiben wo und wie ich bin.
* Es handelt sich um den „Alfred-Bauer-Preis“, benannt nach dem ersten Leiter der „Berlinale“. Er wurde seit 1987, ein Jahr nach dem Tod Alfred Bauers, 30 mal verliehen. Wenige Tage nach der Veröffentlichung dieses Blog-Textes erschien in der Wochenzeitung „Die Zeit“ ein Artikel, der auf Bauers Tätigkeit als „hochrangiger Funktionär der NS-Filmbürokratie“ hinweist. Das veranlasste die „Berlinale“ zu der Mitteilung, diesen Preis ab sofort nicht mehr zu vergeben.
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