Etwas ganz anderes gelingt Anne Imhof. Im Berliner Hamburger Bahnhof, heute ein Museum für Gegenwart, habe ich vor einem Jahr einen Teil ihrer multimedialen Performance „Angst II“ erlebt. Mutig hatte sie dort, mit dem Kunstpreis der Nationalgalerie im Rücken, eine zuvor in Basel inszenierte ‚Oper‘ fortgesetzt. Mit Tänzern und Tieren, mit Schall und Rauch hatte sie den mächtigen Raum vermessen und mit Bedeutung gefüllt, mit jungen schönen androgynen Menschen, die sich darin in einer Mischung aus Choreographie und Improvisation bewegten. Es war faszinierend, nur Angst hatte ich in keinem Moment.
In Venedig muss ich mich für ihre Arbeit „Faust“, mit dem Goldenen Löwen für den besten nationalen Beitrag geehrt, vorab in eine eindreiviertel Stunden lange Schlange reihen. Genug Zeit, die, für jeden bereitliegend, auf ein Blatt weißes 80-Gramm-A4-Recycling-Papier gedruckte Pressemitteilung über das zu lesen, was vielleicht gar keine Performance ist? Anne Imhof selbst bezeichnet sich als Malerin, nur malt sie nicht mit Pinsel und Farben, sondern mit Akteuren, mit Menschen, Tieren, Objekten, Flüssigkeiten, Musik, Texten, Bildern, und es entsteht eine „Konstruktion von Macht und Ohnmacht, Willkür und Gewalt, Widerstand und Freiheit“ in einem Territorium, das sich Raum oder Haus oder Pavillon oder Institution oder Staat nennen lässt.
„Die vermeintliche Umarmung erstarrt im stillen Kampf der Kräfte. […] Die Körper der Performer sind auf das nackte Leben reduziert. […] Lust entsteht nicht im sexuellen Akt, sondern im Akt des Sehens und Gesehenwerdens.“ Es gehe um die Auflösung der „Grenze zwischen kapitalisiertem Subjekt und kapitalisiertem Objekt“. Es gehe um die „Zombisierung des kapitalisierten Körpers“, der, dressiert und fragil, „wie von unsichtbaren Machtstrukturen durchzogenes Material“ erscheint. „In einer hochgradig von Medialität gekennzeichneten Zeit bilden Bilder unsere Realität nicht nur ab, sondern stellen sie her. […] Es tritt ein neues Subjekt in Erscheinung: hormonal, medial, hoch vernetzt. Die Schönheit der Körper, die wir sehen und als selbstoptimiert annehmen, ist durch Werbe- und Warenbildökonomie, der wir immer ausgesetzt sind, konditioniert. Sie liegt nicht im Auge der Betrachtenden, sondern in der Perfektionierung der Verwertungszusammenhänge, der Algorithmen. […] In der Gruppe formiert, bleibt die ziellose Individualität bestehen. Auch wenn sie gemeinsam singen, singen sie vom Ich.“
Der Unterschied zu vielleicht allen anderen Künsterinnen und Künstlern auf dieser Biennale ist, dass Anne Imhof nicht Wirklichkeit aufarbeitet. In ihrer Weise ‚malend‘ übt sie den Umgang mit einer Situation, in die wir erst noch kommen, denn die Verherrlichung des Individuums, die Hervorhebung seiner Süchte und Sehnsüchte und ihrer Vermarktung, wird uns nicht nur der Gemeinschaftsfähigkeit berauben, wir werden uns auch gleichzeitig selbst auflösen, so sytem@isch und so lange, bis nichts mehr von uns übrig ist. Nicht unser Gefühl noch unser Verstand, rein gar nichts von diesem besonderen MenschenWesen, für das die Natur sich Milliarden Jahre oder auch nur einen genialen (oder fatalen) Augenblick lang ins Zeug gelegt hat.
„In einer Gesellschaft, in der die Schuldfrage keine religiöse, sondern eine der individuellen Eigenverantwortung, in der Krankheit keine Gottesstrafe, sondern selbstverschuldet ist, wird der Körper zum Kapital und Geld zum einzigen Parameter. […] Ähnlich wie in Goethes ‚Faust‘ wollen wir etwas verkaufen, das es gar nicht gibt. Die Seele gibt es hier nicht, die Waren der Finanzwirtschaft gibt es nicht, und doch, oder gerade deshalb funktioniert das System.“
Das erste, das mich bis zuletzt davon abhält, während des Aufenthalts im Pavillon auf andere Gedanken zu kommen, ist die professionelle handwerkliche Gestaltung des Innenraums: erhöhte Glasböden und Glaswände, die Proportionen und Perspektiven verändern, gläserne Podeste, Käfiggitter draußen. Dann die Aktionen der Performer, die von der winzigen Geste bis zur ausladenden Bewegung keinen Millimeter SpielRaum übrig lassen. Es ist die Perfektion in jedem Detail, die den Zwang zum Hinsehen und Hinhören auf das, was ‚ausgemalt‘ wird, wie eine Selbstverständlichkeit aussehen lässt und zugleich einem jeden die Pflicht zur Konzentration auferlegt. Es gibt weder Bewegungsfreiheit noch Gedankenfreiheit und doch fühlt sich jeder so: frei beweglich. Als wäre ich freiwillig hier, in diesem Territorium, in diesem System, in diesem Zwinger. Ich bin heißt hier: Ich bin darin. Muss ich es bleiben?
„Allein im Zusammenschluss als Gruppe von Körpern und in der Besetzung von Raum kann sich Widerstand formieren.“ Ist das die gute alte (internationale) Solidarität? „Auf Balustraden und Zäunen, im Untergrund und auf dem Dach, erobern und besetzen die Performer den Raum, das Haus, den Pavillon, die Institution, den Staat.“ Wieder bin ich fasziniert. Und will Performer sein. Gar Revolutionär? Zumindest in diesem Moment – denke ich an Jean Ziegler und seine Empfehlung zur „subversiven Integration“. Als Lebensweise. Als Überlebensfähigkeit.
ein Nachgang
Schon einmal, im Winter 2002, sah ich die Peggy Guggenheim Collection im Palazzo Venier dei Leoni am Canal Grande. Nach zwei Tagen Giardini und Arsenale zieht es mich heftig dorthin. Für ein Update?
1948 wurde die damals Fünfzigjährige Tochter eines gut betuchten New Yorker Geschäftsmannes eingeladen, ihre mit viel Kunstgefühl für heute unvorstellbar wenig Geld erworbene hochwertige Sammlung moderner Kunst auf der Biennale auszustellen. Sie kam und blieb in der Stadt, in der sie fortan den noch im gleichen Jahr erworbenen Palazzo bis an ihr Lebensende mit ihren Bildern bewohnte. Und so fühlen sich die Räume und der bezaubernde Garten auch heute noch an: wie ein gediegenes Zuhause.
Zuhause sehen sich auch die Bilder an, die beides kennen: Repräsentation und Geborgenheit. Gewiss liegt das auch an ihrer Verschiedenheit gegenüber der heutigen Kunst, die keine Ruhe mehr hat, nicht fürs Heranreifen und nicht fürs Entfalten. Immer häufiger wie ausgeliefert wirkt sie auf mich, wie hervorgetrieben, abgehetzt, eingefangen und wieder losgerissen und währenddessen immerfort ums Bleiben kämpfend, verwickelt und auf Tauschgeschäfte angewiesen: Geld gegen Liebe, Lust gegen Frust, Inspiration gegen Konspiration. So hält sie sich in der Zeit – aber am Leben?
In Peggy Guggenheims Wohnung ist sie nach wie vor lebendig, sind die Bilder und Objekte nur ihretwegen und meinetwegen und sich zuliebe da und geben mir gar keine andere Chance, das als Sinn zu akzeptieren, weit und lange über das Sich-gegenüber-sein hinaus …
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