Heute vor 122 Jahren wurde Großvater, mein „Opa“, geboren. Mit Dreizehn lauschte ich im gemeinsamen Schlafzimmer seinem Atem. Wenn er manchmal stockte, hatte ich Angst, er könnte sterben. Er hatte erzählt, dass ihm nach einer Lungenentzündung in jungen Jahren und einem Magengeschwür ein Arzt gesagt habe, er könne sich freuen, wenn er seinen 50. Geburtstag erlebe. Inzwischen war er Sechzig. Ich rettete mich mit dem Gedanken, dass die Großmutter dann noch da war. Ohne sie wollte ich auf keinen Fall weiterleben, ohne ihn noch eher.
Als Kleinkind und in den ersten Schuljahren sah ich ihn in der Woche nicht viel. Wann und wo möglich, nahm er sich aber Zeit für mich. Vom Frühling bis in den Herbst liefen oder fuhren wir, wenn er von der Arbeit kam, häufig noch zu Dritt in den Kleingarten, den die Großeltern gepachtet hatten. Samstags und sonntags waren wir oft den ganzen Tag über dort.
Wo es ging, nahm er mich mit oder hinzu, zeigte, erklärte und ließ mich selbst versuchen. Wollte ich mich selbst beschäftigten, ließ er mich. Er baute mir Sandkasten und Schaukel und gab mir, wenn ich spielte, das Gefühl, in Obhut zu sein. Später erkundete ich die Umgebung. Auf dem angrenzenden Sportplatz des VEB Waggonbau Dessau, wo er bis zum Volksaufstad im Jahr 1953 als Lehrausbilder arbeitete, sah ich den Fuß- und Feldhandballern des Volkseigenen Betriebes zu. War niemand da und der Haupteingang zum Gelände verschlossen, konnte ich durch ein Törchen im Zaun zur Gartenanlage auf den Platz und selber spielen.
Als ich Acht war, fuhr er mit mir in einem Interzonenzug ins Ruhrgebiet um die Tochter, meine Mutter, zu besuchen. Dort lernte ich meine beiden halben Schwestern Ilka und Dagmar, fünf und drei Jahre alt, und den Stiefvater kennen, der in der Steinkohle arbeitete. Ich erinnere Spaziergänge mit dem Großvater und seinen Enkelkindern hinter der Zechensiedlung, wo es durch Felder und Kuhweiden ging. Einmal näherte sich das Getier bedenklich. Der roten Jacke Ilkas wegen, erklärte er, nachdem er unser Tempo vorsorglich beschleunigt hatte.
In mein Poesiealbum schrieb er den Kantschen Imperativ und baute mein erstes Fahrrad. Eine halbe Stunde genügte, um mir in der Spielstraße unweit der Wohnung das Fahren beizubringen. Abenteuerlicher war meine erste Mopedfahrt.
Ich war Fünfzehn und auf ihm voran, ich mit dem Rad hinterdrein, fuhr er auf die Elbwiesen Richtung Roßlau. Gewissenhaft erklärte er mir Kuppeln, Schalten, Gasgeben und Bremsen, legte den ersten Gang für mich ein, lief nebenher, schaltete noch in den zweiten und ließ los, und ich fuhr und fuhr und fuhr. Hohes Gras strich um die Füße und der tiefe Pfad hielt die Räder wie in einer Spurrinne. Den Gang heraus, zurück in den Leerlauf, bekam ich allerdings nicht, auch bot der Pfad keine Wendemöglichkeit. Würde ich bremsen, würde ich den Motor abwürgen. Längst außer Sicht, kurvte ich entschlossen über eine schmale Brücke und ein wenig querfeldein, schweißnass, zurück.
Als ich mich mit Vierzehn ernsthaft für Astronomie begeisterte, annoncierte er in der Tageszeitung die Suche nach einem Fernrohr. Das ausziehbare Teleskop mit 90facher Vergrößerung holten wir gemeinsam bei dem, der es verkaufte, ab und baute eine stabile parallaktische Montierung nach meinem Entwurf. Vom Balkon zum Hof hin aus beobachtete ich fortan Sonne, Mond und den gestirnten Himmel.
Auf die Erweiterte Oberschule sollte ich nicht gehen. Er wollte, dass ich zuerst einen Beruf erlerne und Geld verdienen kann. Er war unsicher, wie lange er es noch können würde. Da erweiterte die DDR die Abiturstufe um eine obligatorische Berufsausbildung, und er stimmte sofort dem Schulwechsel zu. Dass ich der erste in seiner Familie wurde, der studieren durfte, machte ihn stolz. Als ich das Lehrerdiplom in der Tasche hatte, mich aber aus der Volksbildung herauskämpfte, kritisierte er das nicht. Er schätzte mein entdecktes Interesse für Kultur und Literatur und freute sich über mein zweites Studium am Leipziger Literaturinstitut umso mehr.
Zum letzten Mal sah ich ihn kurz nach seinem 77. Geburtstag im Städtischen Klinikum, in dessen Schlosserei er Jahre zuvor noch eine zeitlang einige Stunden in der Woche mit der Reparatur von Krankenbetten und anderem Gerät seine Altersrente aufgebessert hatte. Dort lag er, bevor er starb, nach einem Hirnschlag noch eine Woche lang bewusstlos auf der Intensivstation.
In meinen Küchenutensilien befindet sich ein unscheinbares kleines Haushaltsmesser mit einer Edelstahlklinge. In meiner Kindheit schon hat Großvater den kaputten Holzgriff durch einen handfreundlichen Messerschaft aus Messing ersetzt, den er natürlich selbst anfertigte. Häufig benutze ich es. Dann öffnet es, wie ein Schlüssel, jedesmal Erinnerungen an gemeinsam mit ihm Erlebtes.
Really superb information can be found on website.Blog monetyze