schamlos

Mitte des vorigen Jahrhunderts hatte in der Altstadt im nordrhein-westfälischen Rheda der Metzger Klemens Tönnies eine Fleischerei. Dort schlachtete er sieben bis zehn Schweine die Woche. Er hatte auch zwei Söhne, Bernd und Clemens. Sie wurden Metzger wie er. 1971 übernahmen sie das väterliche Gewerbe und machten daraus einen Großhandel für Fleisch und Wurst.

Heute macht das Familienunternehmen Tönnies am Markt im Jahr einen Umsatz von über 7 Milliarden bei einer Wachstumsrate von 10 Prozent. 2019 schlachtete es weltweit 20,8 Millionen Schweine, 16,7 Millionen davon in Deutschland, sowie eine halbe Million Rinder.

So ein Wachstum macht Aktionäre und Ökonomen geil, die es eifrig für zwingend notwendig erklären im kriselnden Anthropozän. Da schwillt ihnen die Brust – und der Kamm, wenn immer mehr freilaufende Spielverderber diese Erfolgsstory als Gruselmärchen entlarven und sich erdreisten, nach Schamgefühl zu fragen.

Für den griechischen Dichter Hesiod, der als Ackerbauer und Viehhalter lebte und dem Rechtsnormen als unbedingt nötiger Ausgleich zu menschlicher Vermessenheit galten, betrachtete Scham als Hüterin des inneren Rechtsgefühls. Angeboren soll sie den Menschen sein, schreibt der Sozialpsychologe Jonas Rees und als ein „Gefühl, dass nichts mehr zu retten sei, wenn die anderen einem auf die Schliche kommen“. In welcher Phase unserer Entwicklungsgeschichte aber hätte es Wirkung hinterlassen? In den Großreichen des Altertums? Im raubritternden Mittelalter? In kolonialen Imperien? In heutigen Diktaturen, Präsidialsystemen oder Demokratien?

Wann hätten wir je aus Empathie oder Verständnis zugunsten anderer auf eigene Vorteile verzichtet? Liegt es uns nicht ferner denn je? Zwar sind wir im Bedenken und Entwerfen manchmal groß, haben Utopien wie die des Thomas Morus, Francis Bacon oder Tommaso Campanella in die Welt gesetzt, sie als Alternativen zu unseren Konstrukten aber nie ernsthaft ins Auge gefasst. Tiefer denn je stecken wir in Sackgassen fest, hirnverdreht von zielloser Beschleunigung und navigieren, protestieren, revoltieren, während uns langsam die Luft ausgeht und immer mehr die, von der sich gesund sein lässt.

„Eine typische Begleiterscheinung des Schamgefühls“, lese ich bei Wikipedia, „ist die Schamröte, eine Reaktion des vegetativen Nervensystems, die eine verstärkte Blutzufuhr im Gesicht verursacht und es erröten lässt. Im Allgemeinen scheinen Kinder und Jugendliche schneller rot zu werden als Erwachsene.“ Schamrot wird Clemens Tönnies schon lange nicht mehr, und Verantwortung für die verheerenden Zustände in seinen Schlächtereien weist er weit von sich.

Die Philosophin Maria-Sibylla Lotter beschreibt die Scham als objektivierendes Selbstbewusstsein und merkt an: „Sanktionen können eine Person ebenso wenig erreichen wie ein vernünftiger Ratschlag, wenn sie nicht schon ein moralisches Selbstverständnis entwickelt hat, das sich als Scham äußert und der Person Gründe liefert, die Autorität von Eltern und die Kompetenz von Ratgebern anzuerkennen.“

Ich habe keinen Grund, die Autorität des Metzgers Klemens Tönnies in Frage zu stellen und noch viel weniger die Kompetenz von Epidemiologen. Also bleibt die Frage, warum sie dem Sohn Clemens abhanden kamen. Wollen wir die Antwort wirklich wissen? Denn wie sich herausstellt, sind derartige Persönlichkeitsdefekte keine Einzelfälle sondern systemisch. Und es stellt sich heraus, dass das Schamgefühl die unter uns am meisten stört, die, längst wider besseren Wissens, an einem Wachstum festhalten, das auf Ungleichheit und der Zerstörung unseres Lebensraumes beruht.

Und die es nicht am meisten stört – wie schamhaft sind denn sie? Die, die frei und willig für den Milliardär Clemens Tönnies Tiere schlachten. Die, die ihm seine tier- und menschverachtenden Fabriken erlauben. Die, die sie ‚vor der Haustür‘ haben aber nichts dazu sehen, hören und sagen wollen. Die, die in Supermärkten frei und willig das Produzierte für gern Schleuderpreise kaufen und verzehren. Die, die sich abwenden, Vegetarier werden und wieder ruhig schlafen können. Wie schamhaft bin denn ich?

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